Man sollte ja meinen, dass Chris Rea im Laufe seiner Karriere genug eingenommen hat, um ein sorgenfreies Leben zu führen, aber dem ist anscheinend nicht so. Seit mehr als einer Woche ist der arme Kerl unterwegs, um an Weihnachten zuhause zu sein. So ein Flug kostet heutzutage doch auch nicht mehr die Welt, aber nein: Chris fährt mit dem Auto und damit es auch jeder weiß, posaunt er es seit Tagen durch den Äther in die Welt. Genau genommen ist es jedes Jahr dasselbe. Immer und immer wieder ist Chris Rea kurz vor Weihnachten unterwegs und es dauert und dauert und dauert. Es heißt, der Mensch sei lernfähig ist – für Chris Rea gilt das nicht. Andererseits weiß ich nicht, was ihn zuhause erwartet. Ist vielleicht nichts Schönes und deshalb lässt er sich soviel Zeit wie nur möglich, fährt tagelang um den Block und macht noch einen Abstecher in fünfhundertdreiundsiebzig Kilometer entfernte Städte. Kann ja sein.
Vor vielen Jahren war ich an Heilig Abend in Oberschwaben. In der Stadt, in der ich damals wohnte, gab es eine schöne Tradition: am Morgen des 24. traf man sich vor einer Kneipe. Es gab Kekse, Lebkuchen und Tee für die Kinder und Bier, Glühwein und Punsch für die Erwachsenen. Da war ganz schön was los. Sogar der Bürgermeister ließ es sich nicht nehmen vorbeizuschauen. Am frühen Nachmittag gingen die Leute nach Hause und bereiteten alles für den Heilig Abend vor. Zu späterer Stunde, nach einem ausgiebigen Mahl und Bescherung und so weiter gingen manche nochmal durch die winterlich-verschneiten (damals gab es noch Schnee) Gassen, um irgendwo einen weihnachtlichen Absacker zu sich zu nehmen.
Es war so gegen 22 Uhr, als ein Typ in die Kneipe in der ich saß kam und sich an den Tresen setzte. Ich hatte ihn schon morgens gesehen, da hatte er allerdings noch kein blaues Auge. Auf Nachfrage erzählte er, dass die Weihnachtsfeierlichkeiten bei ihm zuhause ein klitzekleines Bisschen aus dem Ruder gelaufen seien und er mit seinem Vater in Streit geriet. Zuerst verbal, dann auch physisch. Vielleicht waren es bei dem Typen doch ein oder zwei Frühstücksbiere zuviel, vielleicht war sein Vater auch einfach nur schneller als er – das Geschenk, das er von seinem alten Herrn bekam, war jedenfalls von erlesener Farbe und weithin sichtbar.
Ich kenne jetzt den Vater von Chris Rea nicht, aber wenn der ähnlich drauf ist, wäre es natürlich durchaus verständlich, dass man es nicht eilig hat mit dem Nachhausekommen. Andererseits kann ja auch das falsch sein. Da kommt Chris Rea dann nach tagelanger Herumkurverei endlich an und als erstes kriegt er von seinem Vater eine Kopfnuss, gefolgt von einem „Wo treibste Dich denn so lange rum, Bursche? Wie lange sollen wir denn noch warten?“ Jeder normale Mensch würde sich nach so einer Aktion umdrehen, wieder ins Auto setzen und wegfahren. Würde Chris Rea wahrscheinlich auch gerne, aber nach der ganzen Rumfahrerei ist natürlich sein Tag leer, ist ja klar. Also nimmt er den Kühlpack, den ihm seine Mutter schon in weiser Voraussicht gerichtet hat und erträgt den Schmerz und alles was da noch so kommt. „Aber nächstes Jahr komme ich nicht hierher! Auf keinen Fall“, denkt sich Chris Rea und ich würde ihm nur zu gerne glauben, aber spätestens in der zweiten Woche, nachdem „Last Christmas“ das erste mal lief (Wham lernen es auch nicht! Von wegen „Last“) macht er sich wieder auf den Weg… Das ist so sicher wie der über den Tigerkopf stolpernde Butler bei „Diner for one“ oder ganz furchtbare Höllenschmerzen, wenn der Arzt sagt, dass es jetzt vielleicht ein ganz klein wenig pieksen könnte.
Nun denn, dann soll er halt singen, der Chris. Gibt Schlimmeres. Vielleicht würde ich sogar etwas vermissen, wenn er mal nicht heimführe. Dann wäre da ja nur noch Wham. In diesem Sinne: Feliz Navidad.